Die Scheuche Der Hasenvuss

Über Stände

Die Scheuche und ich hatten gestern mal wieder Standdienst, wie vorgestern auch. Standdienst heißt am Infostand stehen und mit Passanten reden, Materialien austeilen und Artikel aus dem „Fanshop“ verkaufen. Da wir in Tierrechten machen und sich unser Stand auf das Stoppen von Tierversuchen bezieht, haben wir viele Begegnungen mit sehr unterschiedlichen Menschen und ihren ebenso unterschiedlichen Meinungen. Doch manches wiederholt sich auch und für gewisse Häufungen führen wir mentale Strichlisten. Zum Beispiel ist da der „Nehmt doch Kinderschänder/-ficker“ Ausruf, welcher uns meist aus etwa fünf Metern Entfernung von schnell gehenden Passanten zugerufen wird. Dieser Ausruf ist ein wenig anders als die „ich finde man sollte Kinderschänder/Politiker dafür nehmen“-Aussage, die uns von Menschen zugetragen wird, die an den Stand kommen und mit uns reden. Zum einen liegt ersterem der imperative Fehlschluss zugrunde, dass wir es seien, die die Tierversuche durchführen oder zumindest darüber zu entscheiden hätten, an wem toxikologische oder pharmazeutische Tests durchgeführt werden, zum anderen wird er uns aus sicherer Entfernung und ohne die Möglichkeit einer Replik zugeschleudert. Auch wird ersteres meist von jüngeren männlichen Wesen gerufen, und die zweite Aussage, man sollte doch Kinderschänder oder Politiker für solche Tests nehmen, wird stets von älteren und meist weiblichen Standbesuchern geäußert.

Uns fällt es schwer, dafür ein gutes überzeugendes Gegenargument zu finden. Ich habe es die letzten Tage mit „Menschen sind aber auch Tiere“ versucht, was schon recht gut funktioniert, da es erstmal zu einer Nachdenkpause führt, nach der aber unweigerlich so etwas wie „ja aber die schlechtesten / allerletzten / schlimmsten etc.“ kommt. Es herrscht wohl eine ziemliche große Verbitterung in der Gesellschaft, aber damit sage ich sicher niemandem etwas Neues. Sie nimmt jedoch nicht ab, sondern eher zu und ist auch regional sehr unterschiedlich. Während unsere mentale Kinderschänderstrichliste auf dem lokalen städtischen veganen Sommerfest bei einem Gedankenstrich schon ihren Höhepunkt erreicht hatte, wurde sie gestern und vorgestern - in den von Arbeitslosigkeit geprägten Vorstädten - fast dreistellig. Ob es ein sozio-ökonomisches Phänomen, entsprechende Bildungsferne oder das vorgefilterte Publikum eines veganen Sommerfestes ist, das hier den Unterschied verursacht, soll nicht mein Thema sein, sondern die Frage, wer denn so an einem Wochentag in einer normalen Fußgängerzone zu uns kommt.

In ihrem Buch Freakonomics1 erzählen Steven D. Levitt und Stephen J. Dubner von einem New Yorker Büroangestellten, der stets eine Box mit Donuts in den Flur stellte, aus welcher sich jeder für einen Dollar bedienen konnte. Das Geld sollte in eine leere Box daneben eingeworfen werden, das Bezahlen wurde nicht beaufsichtigt. Nachdem Anfragen aus anderen Etagen dazu kamen und das „Geschäft“ mit den Donuts immer lukrativer wurde, kündigte der Büroangestellte seinen eigentlichen Job und belieferte bald die Hälfte aller Büros in Manhattan mit seinen Kisten. Das besondere an ihm war seine akribische Buchführung; für jeden Tag und jede Kiste notierte er sich, wo sie abgestellt wurde und wie viele Dollar am Ende darin waren, denn es bedienten sich auch immer wieder Leute ohne zu bezahlen. Levit und Dubner korrelierten diese über Jahrzehnte geführten Bücher mit anderen Datensätzen. So wurde beispielsweise bei Regenwetter signifikant mehr ohne Bezahlung genommen als bei Sonnenschein. Und besonders leicht zu erkennen war, dass in höheren Stockwerken mehr gestohlen wurde als in tieferen. Da in New York die Chefetagen oben und das gemeine Bürovolk weiter unten angesiedelt ist, leiten die Ökonomen Folgendes daraus ab: Je höher das Einkommen, desto mehr wird abgezockt. Als möglichen Grund mutmaßten sie, dass es einer gewissen Härte bedarf, um sich in dieser Gesellschaft nach oben durchzuboxen.

Bei uns kommen, egal wo wir uns gerade befinden, sicher weniger Wohlhabende und viel mehr Geringverdiener an den Stand. Auch die Spendenbereitschaft scheint uns reziprok zum Einkommen zu sein. Sogar als erklärter Religionsgegner kam mir vorgestern dabei die Bergpredigt in den Kopf und wollte erstmal nicht mehr raus. Nach Matthäus 5.5 sollen die Sanftmütigen die Erben der Erde sein. Im Englischen heißt es an der Stelle „the meek shall inherit the earth“. „Meek“ kann viel bedeuten, im Altgriechischen der Zeit wird dieses Wort tatsächlich gerne im Sinne von „sanft“ oder „gentile“ [eng.] genutzt und nicht im Sinne „schwach“ oder „machtlos“. Ich bin mir jedoch sicher, dass sie es sind, die uns am Stand am meisten unterstützen: die Sanftmütigen. Ob sie die Erde erben und regieren sollten, da bin ich mir allerdings nicht so sicher. Aber falls es mal dazu kommen würde, werden die Scheuche und ich wohl an einem Stand gegen Politiker- und Kinderschänderversuche stehen müssen.


1 Stephen J. Dubner und Steven Levitt. Freakonomics. Harper, 2005